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ADHS – unter der Spitze des Eisbergs

Mann und Frau Fahrrad ADHS bei Erwachsenen

Eine Reise unter die Spitze des Eisbergs

Sie fragen sich zurecht, was sich unter der Spitze des Eisbergs versteckt. In den meisten Büchern über ADHS - wie auch in meinem ersten Buch «ADHS in der Familie» - finden Sie ein breites Spektrum über die ADHS im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter. Wissen über die Prävalenz, Ursachen, sowie Symptome der ADHS verbunden mit Strategien wird Ihnen vermittelt. Die Andersartigkeit von ADHS-Betroffenen darf nicht auf den Einzelnen begrenzt werden, sondern greift auf Systeme wie Partnerschaften, Familien sowie weitere soziale Systeme über. Die besondere Dynamik in Beziehungen mit ADHS-Betroffenen wurde bisher vernachlässigt. Die Frage, weshalb die ausgeprägte Hilflosigkeit und Not in derartigen Familiensystemen sich häufen, lässt sich nicht einfach erklären. Vergleichbar mit einem Eisberg, von dem nur ein kleiner Teil sichtbar ist, verhält es sich mit der Aufmerksamkeitsdefizitstörung. Erkennbar sind nur die Besonderheiten und Verhaltensweisen von Menschen mit ADHS in diversen Lebensbereichen. Doch was steckt dahinter bzw. bildet die Grundlage für die Auffälligkeiten in Familien, Partnerschaften und geschäftlichen Verbindungen? Um den diversen Faktoren der Ursachen gerecht zu werden, treten wir eine Reise unter die Spitze des Eisberges an. Dabei erfahren wir, weshalb schwerwiegende Komplikationen in Freundschaften, Liebesbeziehungen bzw. im sozialen Kontext allgemein auftreten können und Betroffene oft keinen Ausweg aus diesen Konflikten finden. Wir stoßen bei der Ursachenforschung auf (unbewusste) Schuld- und Schamgefühle, Insuffizienzgefühle, Loyalitätskonflikte und Verdrängungsmechanismen.

Im Fokus stehen meist die defizitären Eigenschaften, die mit einer ADHS verbunden sein können. Es ist mir ein Anliegen, die Talente der Betroffenen hervorzuheben. Werden die Ressourcen entdeckt, gefördert und ins Leben integriert, stehen die Chancen für einen positiveren Umgang mit der ADHS Problematik gut.

Meine persönliche Bilanz: 

„Ohne Menschen mit ADHS wäre die Welt eintöniger. Durch ihre besonderen Talente wie Begeisterungsfähigkeit, Neugierde, Kreativität, die unterschiedliche Denk- und Betrachtungsweise, Intensität in der Erlebniswelt und ihrem Durchhaltewillen fördern sie andere Sichtweisen und tragen zu einer vielseitigeren Anschauungsweise des Lebens bei. Dadurch wird unser Alltag bunter.“

Nicht umsonst gibt es viele national und international bekannte „ADHS-Persönlichkeiten“ in den Gebieten Kunst, Politik, Erfindung, etc. 

Aus Du und Ich wird Wir

Häufig gehen zwei Menschen mit einer oftmals nicht diagnostizierten ADHS eine Beziehung ein. In der Kennenlernphase kommen folgende positiven Aspekte zum Tragen: Unbeschwertheit, Spontaneität, unkonventionelle Ideen, Kreativität und Empathie. Sie bewirken eine dynamische Partnerschaft. Menschen mit ADHS neigen in der Verliebtheitsphase dazu, unbekümmert in den Tag hineinzuleben, keine langfristigen Zukunftspläne zu schmieden und unterschwellig auftretende Konflikte zu bagatellisieren. In der Anfangsphase werden ausschließlich die positiven Aspekte gesehen und die Beziehung beginnt stürmisch. Alles andere wird nebensächlich. Ihr Zusammensein genießen sie intensiv.

Der Schritt vom Singleleben in eine Partnerschaft darf nicht unterschätzt werden. Er ist diffizil und stellt Betroffene vor unverständliche und unüberschaubare Aufgaben. In einer Beziehung ist das für die ADHS charakteristische, unbewusste Misstrauen nicht verschwunden. An der langerkämpften Selbstbestimmung wird zum Selbstschutz festgehalten. Bestehen beide Partner auf der Selbstbestimmung und die Erfüllung ihrer Wünsche, kommt es zu Konflikten.

In Veränderungsphasen, wenn aus einer lockeren Verbundenheit eine verbindlichere Beziehung wird, braucht es Anpassungen und von beiden Seiten mehr Toleranz, sowie die Bereitschaft, die eigene sichere Insel zu verlassen und dem Partner entgegenzukommen und ihm Vertrauen zu schenken. In dieser Zeit sollten sich die Partner ganz besonders Zeit füreinander nehmen und miteinander kommunizieren. Ein wichtiger Bestandteil ist das Äußern der eigenen Bedürfnisse und das Anhören der Anliegen des Gegenübers. Kommen beide einander entgegen und beharren nicht auf ihrem Standpunkt, stehen die Chancen für die Bildung einer stabilen Beziehung gut. Aus DU und ICH wird WIR.

Vertrauen schenken fällt schwer

Wieso fällt es so schwer, dem Partner Vertrauen zu schenken. Weshalb ist die Angst vor Fremdbestimmung derart ausgeprägt? Die problematische Annahme, in einer Gemeinschaft dem andern ausgeliefert zu sein, geht auf die Erlebnisse der Kindheit zurück. Die meisten konnten sich gegenüber Vorwürfen in der Kindheit nicht wehren und waren den ungerechtfertigten Vorwürfen der Erwachsenen und Gleichaltrigen ausgeliefert. Die Krux: Stigmata, schmerzhafte Ereignisse, sowie Traumata befinden sich im Unbewusstsein. Damit sie als Kinder besser überleben konnten und die Heftigkeit der Negativerfahrungen abgefedert wurde, setzte der Mechanismus der Verdrängung ein. Als Erwachsene sind sie sich der Ursachen nicht mehr bewusst. Die unbewussten Inhalte können nur in einer Therapie aufgelöst werden.

In einer Partnerschaft im Erwachsenenalter ist die Ausgangslage anders. Neben dem WIR hat jeder seinen eigenen Freiraum. Es lohnt sich, in die Beziehungsarbeit zu investieren. Durch die Auseinandersetzung miteinander entstehen Nähe und Bindung.

Typische Probleme in den Partnerschaften

Wir können uns zu Recht fragen, weshalb die Scheidungsrate bei zwei Menschen mit ADHS, die meist nicht diagnostiziert sind, bzw. sich nicht mit der ADHS auseinandersetzen, höher ist.

Menschen mit ADHS werden mit Mimosen verglichen aufgrund ihrer Hypersensibilität. Ihre Frustrationstoleranz ist gering. Wird eines ihrer «Reizthemen» angeschnitten, baut sich das Gefühl, nicht ernst genommen und ungerecht behandelt zu werden, auf. Sie sind Gerechtigkeitsfanatiker. In solchen Situationen verlieren sie die Selbstbeherrschung sowie die Kontrolle über ihr Verhalten. Der Tonfall wird lauter, gewinnt an Bestimmtheit und verunmöglicht ein klärendes Gespräch. Derartige überdimensionale affektive Ausbrüche kommen in einer Partnerschaft häufiger vor. Die Ursachen sind vielfältiger Natur.

Nimmt das Vertrauen gegenüber dem Partner zu, gelingt es in kleinen Schritten, sich dem Partner zu nähern. Bevor dieser Prozess in Gang kommen kann, wird der Partner unbewusst in hochemotionalen Auseinandersetzungen geprüft. Zu tiefgründig sitzt die Angst vom Gegenüber bestimmt und/oder verlassen zu werden. Nebst Verlustängsten sind Schuld- und Schamgefühle bei Krisen dominant. Menschen mit ADHS sind besonders loyal und suchen den Fehler bei sich. Kein hilfreicher Mechanismus, um die Gefühle der Insuffizienz zu mindern. 

Stolpersteine bildet ebenso die mangelhafte Kommunikation. Durch die «Logorrhö» (Reden ohne Punkt und Komma), das Gegenüber durch ständiges «Reinreden» nicht ausreden lassen, «assoziative Gedankensprünge» sowie «Langatmigkeit» beim Erzählen wird der Partner auf eine Geduldsprobe gestellt.

Verantwortlich für die Kommunikationsschwierigkeiten werden die schwachen Exekutivfunktionen des «ADHS-Gehirns» gemacht. Sind exekutive Funktionen nicht ausgereift, fällt die Regulation der Gefühle und die Unterdrückung der Impulse schwer. Die unterschiedliche Arbeitsweise des ADHS-Gehirns aufgrund von Reizüberflutung, Wahrnehmungs- und Fokussierungsschwierigkeiten und zu geringem Arbeitsspeicher verursacht die erschwerte Einfühlung in die Mitmenschen und führt zum Misslingen der Kommunikation. 

Wenn ADHS-Betroffene Eltern werden

Die Mehrzahl der von ADHS-betroffenen Paare wünscht sich Kinder und gründet zeitnah eine Familie. Gemäß ihrem Naturell leben sie im Hier und Jetzt und sind teilweise nicht fähig, die Konsequenzen dieses großen Schrittes abzusehen. Sie sind kinderlieb und möchten ihren Kindern ein besseres Leben bieten. Das Auseinanderdriften von Wunsch und Realität erfolgt bei den meisten Paaren mit oder ohne ADHS. Menschen mit ADHS gehen aufgrund der hohen Heredität ein grosses Risiko ein, dass eines oder mehrere ihrer Kinder ebenso mit dieser Veranlagung zur Welt kommt. Ist dies der Fall, müssen sie sich meist durch ähnliche Verhaltensweisen der Kinder mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen, was schmerzvoll wie auch lehrreich sein kann. Wenn der Nachwuchs ebenfalls von ADHS betroffen ist, bildet sich eine schwierige Dynamik. Kinder mit ADHS fordern mehr Geduld, Aufmerksamkeit und Energie; Ressourcen, die in geringerem Maße vorhanden sind. Trotz des Verständnisses für die ADHS-bedingten Eigenschaften, fehlt am Ende des Tages oft die Geduld. Eltern möchten für ihre Kinder nach getaner Arbeit da sein, mit ihnen Zeit verbringen. Alle Familienmitglieder sind müde. Etwaige eingenommene ADHS-Medikamente wirken abends nicht mehr. Daher ist der «Feierabend» eine der sensibelsten Zeiten für ungewollte Eskalationen, was Schuldgefühle und Traurigkeit auslöst. Zum Glück sind Menschen mit ADHS nicht nachtragend und versöhnen sich vor dem Schlafengehen – auch eine ihrer herausragenden, positiven Eigenschaften.

Möchten Sie hinter die Kulisse des Eisberges hinsichtlich der ADHS schauen und anhand von vielen Fallbeispielen die emotionale Veranschaulichung erhalten, dann begleiten Sie mich auf dieser Reise. Viel Vergnügen bei der Lektüre.

Ruth Huggenberger

Dr. phil. Ruth Huggenberger

Dr. phil. Ruth Huggenberger studierte an der Universität Zürich Klinische Psychologie. Nach dem Abschluss promovierte sie an der Forel-Klinik und absolvierte eine Psychotherapeutenausbildung am Szondi-Institut. Danach entschied sie sich für die Praxistätigkeit. Seit 15 Jahren ist sie auf die ADHS-Abklärung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen spezialisiert sowie auf die Therapie von Menschen mit ADHS und deren Komorbiditäten. Daneben nimmt sie an Forschungsprojekten teil. Sie doziert an der Fachhochschule und an weiteren Instituten, Schulen und Organisationen. 2015 gründete sie eine Non-Profit-Organisation für ADHS Betroffene und Angehörige (www.adhs-infoschweiz.ch), die sich für das Verständnis der ADHS einsetzt. Nach dem 2019 veröffentlichten, erfolgreichen Buch „ADHS in der Familie –Strategien für den Alltag“ folgt nun der zweite Band.

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